1001, 2004
A3 Fotokopien auf MDF-Platten, Aluminiumprofile, 660 x 360 cm

 

1001, der Titel von Ilka Meyers großflächiger Wandarbeit, verweist auf die orientalischen Erzählungen der Sheherazade aus Tausendundeiner Nacht - und einem Nachthimmel gleich tausender funkelnder Sterne erscheint die schwarze Wand mit ihren unzähligen weißen Einschlüssen. Die Arbeit der Künstlerin reicht vom Boden bis zur Decke der Galerie und ist knapp sieben Meter lang, so dass der Eindruck entsteht, man würde eintauchen können in diesen Teppich aus schwarzem Grund und weißen Flecken, die wie Spuren einer viel befahrenen Strasse wirken. Doch weder der Blick nach oben ins "Unendliche" noch der auf den "Boden der Tatsachen" verbirgt sich hinter dem, was Ilka Meyer 1001 nennt: Es ist vielmehr ein Blick ins Innere - über die äußere Hülle hinweg. Sie hat die schwarze Hülle ihres Notizbuches kopiert, sie wiederholt vergrößert und kopiert, so dass sowohl die kleinen Risse und Einschlüsse auf der Buchhülle als auch die Fehler im Kopierprozess sichtbar hervortreten und als weiße "Fehlstellen" das einheitliche Schwarz durchbrechen. 1001 Kopien der Notizbuchhülle waren nötig, um das Format zu erreichen. (1)

Der Akt des Erinnerns ist, abstrakt gesehen, dem des Kopierens nicht unähnlich: Neurobiologische und wahrnehmungspsychologische Studien haben die Erinnerung als Akt des kontextbezogenen Wiederaufrufens der im autobiografischen Gedächtnis abgelegten Spuren vergangener Empfindungen oder Erfahrungen beschrieben. (2) Solche Empfindungen sind Motivationen der wiederholten Sinnstiftung, die wir Erinnerung nennen. Sich erinnern bedeutet auch, Erlebtes einer ständigen Neuinterpretation zu unterziehen, die abhängig ist von der aktuellen Gemütslage und äußeren Reizen. Das Resultat dieses individuellen Erinnerungsprozesses - das autobiografische Gedächtnis - ist daher nie dasselbe, sondern unterscheidet sich durch Ausschlüsse, Umdeutungen oder "blinde" Flecken von ihren temporären "Kopien". Die Kopien des Notizbuches der Künstlerin offenbaren solche fast plastisch wirkende "blinde Flecke", die sich von der ursprünglichen Vorlage unterscheiden. Analog zum Erinnerungsakt stehen diese visuellen Zeichen für die Wahrnehmungen, die wir nicht mehr rekapitulieren können, die wir vergessen, weil unser Gedächtnis den Kontextbezug nicht mehr herstellen kann. Heute machen wir uns Notizen von dem, woran wir uns erinnern möchten, zum Beispiel in einem Notizbuch. Geschichten wie die aus Tausendundeine Nacht sind erst durch mündliche, später durch schriftliche Überlieferung vor dem Vergessen bewahrt worden und doch produzierte die Tradierung der Erzählungen der Scheherazade - im Wiederaufrufen und Neuinterpretieren - Abweichungen und Veränderungen des Originals.

Anke Hoffmann

 

(1) Die Arbeit wurde erstmals 2004 als raumspezifische Arbeit im Nassauischen Kunstverein ausgestellt.
(2) vgl. Hans Markowitsch: Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen, Darmstadt 2002.

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