Verwirrung des Gewöhnlichen                                                   

Von Christian Rabanus
Katalogtext zur Ausstellung im Nassauischen Kunstverein Wiesbaden, 2004.


Der Kopierer gehört wie der Computer und das Handy zum Alltag eines jeden Kopfarbeitenden. Aber gehören Kopien in eine Ausstellung? Haben dort nicht nur Originale etwas zu suchen? Ilka Meyer hat in ihrer Ausstellung eine Kollage aus Kopien an die Wand gehängt und diese Arbeit "1001" genannt. Erstaunlicherweise ist damit mehr sichtbar als nur ein paar Kopien. Auf der ausgestellten Kopierarbeit ist etwas gleichermaßen Gewöhnliches wie Ungewöhnliches zu sehen.

Die Künstlerin hat die Rückseite ihres Notizbuchs kopiert. Dabei ist das passiert, worüber man sich beim Kopieren immer wieder ärgert: Einfarbige Flächen werden auf der Kopie nicht flächig schwarz, sondern weisen Fehlstellen auf. Es sind sind helle Einsprengsel zu sehen. Solange diese eine Kopie nicht dominieren und damit die auf ihr enthaltenen Informationen - Texte, Graphiken oder Ähnliches - unbrauchbar, das heißt unleserlich machen, sind sie für das an der Brauchbarkeit der Kopie orientierte Auge des modernen Menschen unsichtbar.

Ilka Meyer ist nun anders vorgegangen: Sie hat Unbrauch-bares - nämlich die besagte Rückseite des Notizbuchs, auf der überhaupt keine Informationen zu vervielfältigen sind - kopiert und damit bewusst Fehlstellen erzeugt. Diese Fehlstellen hat sie immer deutlicher herausgestellt, indem sie sie immer weiter vergrößert und zu einem groß-formatigen Bildwerk zusammengestellt hat. Aus allzu Bekanntem und in der Regel Unbeachtetem hat sie etwas Neues und Beachtenswertes geschaffen: Sie hat vormals Unsichtiges in die Sichtbarkeit gehoben.

Ilka Meyer lenkt damit den Blick der Betrachtenden auf die Sichtbarkeit als solche. Die einzelnen Flecken, die aus den vergrößerten Fehlstellen der Kopien erzeugt wurden, sind als solche uninteressant. Interessant werden sie dadurch, dass sie Sichtbarkeit exemplifizieren. Zu sehen ist ja nach wie vor auf den Kopien nichts, zumindest nichts gegenständlich Bestimmbares oder Informatives. Nur die Sichtbarkeit selbst ist zu sehen.

In der Phänomenologie, einer philosophischen Methode, ist ein analoger Vorgang des Sichtbarmachens bekannt: Durch eine Blickänderung wird etwas vormals Unbeachtetes ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dies geschieht durch ein Heraustreten aus der gewöhnlichen dingorien-tierten Perspektive hinein in eine Perspektive, in der die Bedingungen der Möglichkeit der Dingwahrnehmung selbst wahrnehmbar sind. Diese Haltung des Zurückgetreten-Seins vor dem Selbstverständlichen und Gewöhnlichen, in der das dem Selbstverständlichen und Gewöhnlichen Zugrundeliegende in die Sichtbarkeit tritt, heißt "Epoché" (vom griechischen Wort epéchein - sich zurückhalten, von etwas abstehen). In der Haltung der Epoché steht nicht das vermeintlich Nächstliegende - das Ding, beispielsweise die Kopierkollage - im Vordergrund, sondern das ver-meintlich Fernere, nämlich die Strukturen der Möglichkeit der Dingwahrnehmung. Diese stellen sich bei genauer Betrachtung als das wesentlich Nähere und Unmittelbarere, vor allem das Wahrnehmungsding selbst Begründende heraus.

Der Schöpfer der Phänomenologie, der mährisch-deutsche Philosoph Edmund Husserl, machte sich die Epoché insbesondere für eine Analyse der sinnlichen Wahr-nehmung nutzbar. Husserls Ziel war es, die Sinngebung in der Wahrnehmung zu verstehen - also die bei der Wahrnehmung ablaufenden Prozesse zu durchschauen, die uns Gegenstände als so und so bestimmte aufzufassen veranlassen. Um auf diese Ebene der Untersuchung zu gelangen, auf der sich diese so genannte "Konstitution" abspielt - so nannte Husserl das Geschehen der Entstehung des gegenständlichen Sinnes -, musste er eine ungewöhn-liche und unnatürliche Haltung einnehmen. In dieser wird eine Kopie beispielsweise zunächst nur als Phänomen betrachtet, das heißt nicht als existierender Gegenstand, sondern als eine diesem gegenständlichen Sinn zugrundeliegende Mannigfaltigkeit sinnlicher Wahrnehmungsgegebenheiten. Die Konstitution des gegenständlichen Sinnes auf der Grundlage dieser Gegebenheiten kann dann in der Haltung der Epoché studiert werden.

Die Arbeit "1001" funktioniert genauso wie die phänomenologische Epoché. Sie verursacht ein Stutzigwerden und Staunen. Sie zwingt damit in eine visuelle Epoché. In dieser der Gewöhnlichkeit enthobenen Haltung wird das Faktum und die Struktur der Sichtbarkeit selbst sichtbar. Es taucht nicht wirklich Neues auf, sondern Bekanntes taucht neu auf. Die Wirklichkeit wird im gleichen Maße unwirklich wie die Unwirklichkeit wirklich.

Bei seinen Analysen bemerkte Husserl dann, dass der Sinn, mit dem ein Gegenstand wahrgenommen wird, ganz wesentlich von der Art und Weise bestimmt wird, wie wir einen Gegenstand auffassen. Diese Art und Weise nannte Husserl "perspektivische Gegebenheit in einem Horizont". Damit fängt Husserl terminologisch die Tatsache ein, dass wir einen Gegenstand immer aus einer bestimmten Perspektive heraus in einer bestimmten Situation wahrnehmen; der Nullpunkt der Perspektive ist durch unseren Leib in seiner Funktion als Wahrnehmungsleib bestimmt - von da aus, wo wir sind, nehmen wir den Gegenstand wahr -, die Situation der Wahrnehmung wird von den anderen Menschen genauso wie vom wahrnehm-enden Subjekt selbst gebildet.

Die Perspektive der Wahrnehmung ist hierbei in einem weiten Sinne zu verstehen: Sie beinhaltet nicht nur die physisch-leibliche Perspektive einer sinnlichen Wahrnehm-ung, sondern auch die generelle Lebensperspektive, die durch die Geschichte, die Erfahrungen, die Erwartungen und subjektiven Prägungen des wahrnehmenden Subjekts bestimmt wird. Husserls Entdeckung besteht darin, dass dieser subjektiv geprägte Charakter keinen auszuschalten-den Mangel der Wahrnehmung darstellt, sondern ihr un-vermeidlich zugehört.

Die Herauslösung der von Ilka Meyer bearbeiteten und ausgestellten Gegenstände aus ihrem gewohnten Kontext irritiert zunächst. Diese Irritation ermöglicht aber eine Besinnung auf die Tatsache der Kontextualität, die ohne die verursachte Irritation nicht sichtbar ist. Damit wird auch die Perspektivität der menschlichen Wahrnehmung deutlich.

Im alltäglichen Hantieren mit den Gegenständen laufen wir leicht Gefahr, unsere Perspektive auf die Dinge als die einzig mögliche zu veranschlagen. Abweichende Pers-pektiven werden schnell als Missverständnisse und Fehler disqualifiziert. Die Tatsache, dass andere die gleichen Dinge und Sachverhalte einfach anders - nämlich aus ihrer Perspektive - sehen und verstehen, dass unsere Sicht auf Dinge und Sachverhalte oft genauso wenig oder gut begründet ist wie die der anderen und genauso auf einer ganzen Reihe von oft unbefragten Vorurteilen beruht, geht in unserem geschäftigen, an Effizienz, Rationalität und Profit orientierten Alltag häufig unter.

Die Irritationen, die die Kunst hervorruft, können hier als Korrektiv wirken. Ilka Meyers Arbeiten verwirren und entdecken gleichermaßen: Sie verwirren die alltägliche Selbstverständlichkeit indem sie Sichtbarkeit und zusam-men damit die Perspektivität des Sichtbaren entdecken.

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