Ortloses Verweilen                                                          

Rede von Prof. Ullrich Hellmann (Auzug)
zur Ausstellung "Pflanzstück" im Zollhafen Mainz 2003

 

 

Mit dem Wechselverhältnis von Architektur und Natur, der Beziehungen zwischen tektonischem und pflanzlichem Wachsen, der Konfrontation zwischen nüchterner Konstruktion und unkalkulierbarem Leben hat sich Ilka Meyer im Verlaufe ihres Studiums immer wieder künstlerisch auseinander gesetzt.

Doch mit der hier im Zollhafen vorgestellten Arbeit hat sie allein schon hinsichtlich der raumzeitlichen Dimension etwas Besonderes geschaffen, und das alte Lagerhaus mit seinem architekturhistorisch bemerkenswerten System aus Eisenbetonträgern bot dazu den geeigneten Ort. Von Eisenbeton kann übrigens erst seit den späten sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts gesprochen werden, als der Gärtner Monier auf die Idee kam, seinen Blumenkübeln aus Zement ein Drahtnetz einzulegen. Schon 1843 konstruierte zwar Henri Labrouste die floral erscheinenden Wölbungen der Bibliothek St. Genevieve in Paris, indem er Drahtgeflechte als Verstärkung nutze, aber er bedeckte dieses damals noch mit einer Schicht aus Gips.

 

Der Erste oder genauer gesagt, einer der Ersten unter denen, die den Eisenbeton in großem Stile für Architektur verwandten, war Francois Hennebique, dessen Trägersystem wir hier im Gebäude sehen. Sein System schafft die Grundbedingungen für diesen Raum. Hennebique ist es gelungen, Säule und Balken eins werden zu lassen. Die Säule oder der Pfeiler wächst sozusagen in den die Decke tragenden Balken hinein und verwandelt sich dabei im Übergang zum Balken, so wie sich ein Stamm in einen Ast verwandelt. Tragen und Lasten gehen fugenlos ineinander über. Das Bauen erhält durch die Verwendung von Eisenbeton gewissermaßen organische, ja, pflanzliche Züge. Konstruktion mit engen Bezügen zu Wachstumsprozessen.

Der sogenannte Hennebique-Träger wurde im Jahre 1892 patentiert und in der folgenden Zeit zum Bau von Speichern, Silos, Hafenbauten usw. weltweit eingesetzt. Da die mit diesem System errichteten Betonskelettbauten weitgespannte Räume ohne trennende Stützwände ermöglichten, wurden sie bevorzugt für Lagerhäuser und Industriehallen verwendet. Entlang des Rheins gab es eine Vielzahl derartiger Bauwerke, doch nur wenige haben die Zeiten überdauert. Das Gebäude in Mainz ist ein historisches Denkmal. Sie merken, meine Damen und Herren, die Architektur dieses Lagerhauses hat auf Ilka Meyer in mehrfacher Hinsicht gewirkt. Zum einen übt der großzügige Raum als Ausstellungsraum grundsätzlich schon Faszination aus, zum anderen wohnen der speziellen architektonischen Konstruktion enge Bezüge zu Wachstumsprozessen, zu Vorgängen in der Natur inne. Wahrscheinlich hat Ilka Meyer diesen besonderen Raumorganismus des Lagerhauses sofort und ohne Umweg über die Architekturgeschichte gesehen.

 

Ich habe erwähnt, dass Ilka Meyer sich wiederholt in ihren Arbeiten mit Prozessen und Formationen der Natur auseinandergesetzt hat, vor allem mit Bildern davon, mit Ordnungsvorgängen, mit essenziellen Merkmalen. Immer handelte es sich zugleich um architekturbezogene Arbeiten, seien sie in Kellerräumen installiert, in Werkstätten oder auf Terrassen, wo ein situationsspezifisches Moment bedeutsam war. Pflanzen ohne festen Boden in eigenartiger Warteposition Hier handelt es sich um einen vergleichbar eigenwilligen Ort. Wir befinden uns im obersten Stockwerk eines Lagerhauses, dort, wo die Dachschräge beginnt, wo es normalerweise eng wird, und wir werden zu unserer Überraschung mit einem großen, wuchernden Pflanzenfeld konfrontiert.

Die nüchterne klar strukturierte Industriearchitektur gerät durch das buschartige Pflanzwerk partiell außer Kontrolle. Man verliert, wie im Wald, ein wenig die Übersicht über das Areal. Dabei befinden sich die Pflanzen wohlorganisiert und diszipliniert bezogen auf die Struktur des Raumes lediglich in Wartestellung. Transportfähig und jederzeit transportbereit lagern sie in ihren schwarzen Kübeln und erwarten - ordentlich aufgereiht - ihren Abtransport. Lagerhäuser sind Zwischenstationen, wie Bahnhöfe, nur funktional, keine Aufenthaltsorte. Hier herrscht Bewegung. Es sind Umschlagplätze. Für diesen Zweck ist die architektonische Konstruktion nach Hennebique optimal, denn sie ist selbst nur System und besitzt als solches keinen verbindlichen Ort, denn das System ist neutral, es will keine unverwechselbare und ortsbezogene Architektur.

 

Zwischen Straßburg und Mainz gab es, wie erwähnt, viele derartige Lagerhäuser. Dieses System kann überall sein. Es ist ortlos und, obwohl so funktional, ist es doch dank veränderter Transportsysteme inzwischen veraltet. Schauen wir aus dem Fenster.

Die Container als mobile Lagerbehälter haben jetzt die Lagerhäuser abgelöst. Sie stapeln sich sozusagen ihre Architektur selbst, immer wieder neu aber doch systematisch gleich. Pflanzen an einem Ort, der nur zwischen An- und Abtransport vermittelt, sind an diesem eigentlich fehl am Platz, denn Pflanzen sind von Natur aus verwurzelt. Jeder weiß, was das heißt. Ein Gebüsch geht selten auf Reisen. Wälder sind normalerweise nicht unterwegs. Einer mannshohen Pflanze ist gewöhnlich Mobilität fremd. Wiesen werden nur in Fußballstadien eingerollt oder rausgefahren. Pflanzen suchen sich in aller Regel ihren Halt im Boden, sie sind bekanntlich bodenständig. Weit ausgebreitetes Pflanzwerk ist präsent und nicht flüchtig. Es vermittelt uns Ruhe, weil es Beständigkeit verkörpert.

Auch hier, an diesem Ort des Transfers, will sich in der Begegnung mit dem dichten Grün zunächst dieser Eindruck einstellen. Und doch, hier ist den Pflanzen, wenn man genau hinschaut kein fester Boden gegeben. Sie befinden sich dadurch in der eigenartigen Warteposition. Obwohl ihnen von Natur aus der rasche Wechsel fremd ist, scheinen sie hier auf ihre Abreise zu warten. Eigentlich eine logische Haltung im Hafengebiet. Hier soll nichts Wurzeln schlagen. Auf der einen Seite fließt der Rhein, auf der anderen gibt es Hafenaktivitäten.

 

Meine Damen und Herren, Sie sehen, die Arbeit von Ilka Meyer ist ganz eng mit dem Gebäude verbunden. Konstruktiv wie funktional. Sie handelt von Reisen und Entwurzelung, von Mobilität und Ortlosigkeit, aber auch vom Aufenthalt und Verweilen wie es in Gewächshäusern und Orangerien geschieht, wo uns das Exotische wohlpräpariert vorgeführt wird. Sie ist dem Flüchtigen ebenso gewidmet wie der Beständigkeit, auch wenn diese nur im Transport sich zeigt. Industriearchitektur: eine unwirkliche Umgebung für Pflanzen Wohlpräpariert.

Ein Pflanzstück. Obwohl dieser Raum dem Lagern und Transportieren gewidmet ist, deutet nichts auf entsprechende Aktivitäten. Dieses Pflanzstück ist schlicht und einfach da, so wie ein Wald oder ein Buschwerk. Und weil das so ist, so gemacht ist, erscheinen die Kübelpflanzen in dieser artifiziellen Industriearchitektur, in dieser für Pflanzen unwirklichen Umgebung wie ein tatsächliches Stück Natur. Man glaubt sich, nein, man steht im Wald.

Meine Damen und Herren, Sie haben geduldig wartend gestanden und vielleicht sogar schon Wurzeln geschlagen, unterhalten sie sich nun mit Ilka Meyer über die Geschichte ihrer Gewächse, die sie über viele Monaten begleitet hat oder auch darüber, wie die Pflanzen heißen. Ich weiß die Namen nicht, was mich nicht stört. Ich überlege vielmehr, wie wohl das Licht der Morgensonne, die über den Rhein hinweg in die Fenster scheint, das Grün der Blätter moduliert, frage mich, ob die Pflanzen so sehr duften, dass sie uns die Atemluft nehmen und möchte wissen, ob ihre Schatten auf Boden und Wände bei Mondlicht bedrohlich erscheinen.